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Wort des Jahres 2010: „Wutbürger“

Durchsucht man das Dudenkorpus, eine rund 2 Milliarden Wortformen umfassende elektronische Datenbank der deutschen Gegenwartssprache, findet man eine Vielzahl verschiedenster Komposita mit -bürger. Da ist z. B. von Kleinbürgern, Weltbürgern, Spießbürgern, Ehrenbürgern oder Otto Normalbürgern die Rede. Seit Oktober 2010 macht sich der Wutbürger in der deutschen Presselandschaft breit. Der SPIEGEL-Redakteur Dirk Kurbjuweit lieferte die entsprechende Definition: Ein Wutbürger, so Kurbjuweit, „buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker. Er zeigt sich bei Veranstaltungen mit Thilo Sarrazin und bei Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21“ (SPIEGEL 41/2010).

Das Deutschlandradio (15.12.2010) spricht im gleichen Zusammenhang vom Protest- oder Dagegen-Bürger, dessen „erste Bürgerpflicht Unruhe ist“, DIE ZEIT (49/2010) sogar von einer ganzen Barrikaden- oder Dagegen-Republik. Im Herbst 2010 geht man in Deutschland wieder auf die Straße, man demonstriert gegen Stuttgart 21 (Platz 2, 2010), schottert (Platz 6, 2010) gegen Castortransporte oder bildet in Hamburg Menschenketten gegen die Sparbeschlüsse des Senats (ZEIT-Online, 07.10.2010) – eine neue Protestkultur scheint sich in Deutschland entwickelt zu haben und der Protestbürger kommt dabei als Wutbürger in den Medien eher schlecht weg. Wer ist dieser Wutbürger eigentlich?

Das Grundwort dieses Kompositums bezeichnete ursprünglich den Burgbewohner in Abgrenzung zur Landbevölkerung. Im Mittelalter nimmt der mittelhochdeutsche burgære, nun ein Stadtbewohner, zwischen Adel und Bauern als zweiter Stand eine besondere Stellung mit eigenen Rechten und Pflichten ein. Immanuel Kant trägt schließlich 1784 im Zuge der Aufklärung zur Emanzipation des Bürgertums bei, indem er den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ propagiert. Auch der Wutbürger scheint sich aus einer gewissen „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ befreien zu wollen: Er hinterfragt kritisch und vertraut den Politikern, die er doch selbst gewählt hat, nicht mehr blind.

Der Ausdruck Wut, der sich seit der Barock- und Aufklärungsliteratur relativ gut belegen lässt, zeigt allerdings auch, dass man die neuerliche Emanzipierung des Bürgers nicht für unproblematisch hält. Das Bestimmungswort des Kompositums bezeichnet einen Zustand höchster Erregung, der sich in zornigen, unbeherrschten Worten oder Handlungen äußert. So „geifert“ der Wutbürger, „schreibt Hasspamphlete im Internet“ (SPIEGEL 41/2010) und empört sich nach Jahren mehr oder minder großer Politikverdrossenheit (Wort des Jahres 1992) über scheinbar alles und jeden.

Immerhin scheint dieser Menschenschlag nicht gänzlich humorlos zu sein und auch über die Merkmale „konservativ“ und „nicht mehr jung“ wäre eventuell noch einmal nachzudenken: In NEON 12/2010 kann jeder selbst testen, ob er das „Zeug zum Wutbürger“ hat und anschließend, falls gewollt, seine Sympathie für ihn auf Facebook bekunden. Dort hat der Wutbürger nämlich bereits eine eigene Seite.

Ulrike Stölzel in Zusammenarbeit mit der Dudenredaktion. Ulrike Stölzel studiert Germanistik, Anglistik und Erziehungswissenschaft an der Universität Heidelberg.

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