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Wort des Jahres 2015: „Flüchtlinge“

Glosse zum Wort des Jahres 2015 von Prof. Dr. Jochen A. Bär, Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Vechta und Hauptvorstand der Gesellschaft für deutsche Sprache e. V.

Stand der erste Teil des Jahres 2015 noch im Zeichen der Euro-Krise und insbesondere der Bemühungen um die Rettung Griechenlands vor der Staatsverschuldung, so rückte in der zweiten Jahreshälfte immer mehr die rapide steigende Zahl von Menschen in den Vordergrund, die auf der Flucht vor Kriegen, Verfolgung, Hunger oder Diskriminierung nach Europa kamen und immer noch kommen. Vor allem aus Syrien, aber auch aus Afghanistan, aus dem Irak, dem Iran, aus Pakistan, aus verschiedenen afrikanischen Ländern erreichten täglich Tausende die EU. Sie suchten dabei nicht mehr nur, wie lange Jahre zuvor, den gefährlichen Weg über das Mittelmeer, sondern kamen nun hauptsächlich über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute.

In Europa wurden sie mit unterschiedlicher Freundlichkeit aufgenommen. Während einige Länder sich strikt weigerten und, wie Ungarn, ihre Grenzen schlossen, erweckte Deutschland zeitweise den Eindruck, dass es bereit sei, Menschen in unbegrenzter Zahl willkommen zu heißen. Bundeskanzlerin Merkels Satz „Wir schaffen das!“ und das große Engagement vieler freiwilliger Helferinnen und Helfer brachte anderswo, beispielsweise in Österreich, die Behörden dazu, die Asylsuchenden teilweise einfach nur noch durchzuwinken, das heißt ohne Registrierung nach Deutschland weiterzuleiten.

Die anfangs wohlwollende Grundstimmung begann sich zu verändern, die Willkommenskultur wurde in Frage gestellt. Naturereignis-Metaphern wie Flüchtlingsströme, Flüchtlingsflut, gar Asyl-Tsunami entwarfen Bedrohungspotentiale. Der Ton wurde schriller, nicht nur bei den notorischen „besorgten Bürgern“, sondern auch in Teilen der Politik und der Medien: Flüchtlingsdebakel, Flüchtlingswahnsinn.

Doch auch das demgegenüber scheinbar neutrale Substantiv Flüchtlinge, gebildet aus dem Verb flüchten und dem Ableitungssuffix -ling (›Person, die durch eine bestimmte Eigenschaft oder ein bestimmtes Merkmal charakterisiert ist‹), klingt für sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig: Analoge Bildungen wie Eindringling, Emporkömmling oder Schreiberling sind negativ konnotiert, andere haben eine deutlich passive Komponente: Prüflinge, Lehrlinge, Findlinge, Sträflinge oder Schützlinge sind nicht als handelnde Personen konzipiert – man verfährt mit ihnen. Bereits im 18. Jahrhundert kannte man das Wort Flüchtling, und auch damals schon wurde, beispielsweise von dem Lexikographen Johann Christoph Adelung, ein negativer Beiklang bemerkt.

Neuerdings ist daher öfters alternativ von Geflüchteten die Rede. Ob sich dieser Ausdruck im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Er hat immerhin den zusätzlichen Vorteil, dass er geschlechtsneutral ist (der/die Geflüchtete), während man bei Flüchtling, wie ein Blick in den großen Duden zeigt, nur die maskuline Form (der Flüchtling) kennt: Frauen mit Maskulina zu bezeichnen, gilt heute zunehmend als nicht politisch korrekt.

Das frühe 19. Jahrhunderts hatte solche Probleme noch nicht; es kannte auch die Flüchtlingin. Aber die aktuellen Flüchtlingsprobleme, auch wenn es sich dabei zu einem nicht geringen Teil um Sprachprobleme handelt, liegen wohl ohnehin hauptsächlich anderswo.

Jochen A. Bär

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