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Wort des Jahres 2005: „Bundeskanzlerin“

Glosse zum Wort des Jahres 2005 von Dr. Jochen A. Bär, Herausgeber des Titels „‚Von aufmüpfig bis Teuro‘ – Die ‚Wörter der Jahre‘ 1971-2002“ aus der Reihe „Thema Deutsch“.

Die nach einer Reihe verlorener Landtagswahlen von Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering nahezu im Alleingang beschlossenen vorgezogenen Neuwahlen bescherten den Deutschen, was viele seit Jahren an der Zeit fanden: eine Bundeskanzlerin. Zunächst hatte es danach freilich nicht ausgesehen. Der ohne viel Vorbereitungszeit angesetzte Blitzwahlkampf brachte ein Patt zwischen den Lagern Rot-Grün und Schwarz-Gelb, so dass keine der Wunschkoalitionen zu einer Regierungsmehrheit finden konnte. Zweckbündnisse wie die Ampel (Rot-Gelb- Grün) oder die Jamaika-Koalition (Schwarz-Gelb-Grün) waren als Möglichkeiten bald vom Tisch, und schließlich kam es – auf Bundesebene nach 36 Jahren zu einer Neuauflage: der großen Koalition.

Anfangs beanspruchten beide Partner, die SPD ebenso wie die Union, die Kanzlerschaft für sich. Nach längerem Kanzler-Streit wurde die Frage zugunsten der CDU- Vorsitzenden Angela Merkel entschieden. Sie wurde am 22. November 2005 als erste deutsche Bundeskanzlerin gewählt und vereidigt.

Ist „Angie“ jedoch überhaupt verfassungsgemäß? Diese Frage beschäftigte im Herbst 2005 nicht ganz zu Unrecht das eine oder andere Gemüt. Denn nach Artikel 63 des Grundgesetzes wird „der Bundeskanzler […] auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage […] gewählt“. Von einer Bundeskanzlerin ist nicht die Rede.

Rechtlich liegt hier sicherlich kein Problem vor; die Verfassungsjuristen wären sonst eingeschritten und hätten Merkels Wahl verhindert. Sprachlich aber bereitet die Bundeskanzlerin gleich in mehrfacher Hinsicht Schwierigkeiten.

Irritierend: Die deutsche Sprache, wie schon der Gründervater der Germanistik, Jacob Grimm, in seiner Deutschen Grammatik bemerkte, lässt bei einer Ableitung mit der weiblichen Nachsilbe -in keine weiteren Ableitungen zu. Merkel hat folglich die Kanzlerschaft, nicht aber die Kanzlerinschaft erreicht. (Weniger problematisch sind Zusammensetzungen zweier eigenständiger Wörter. So könnte sich im allgemeinen Sprachgebrauch möglicherweise ein Wort wie Bundeskanzlerinamt etablieren.)

Ebenfalls irritierend: Bei der Form der Bundeskanzler, wie sie in der Verfassung steht, liegt ein so genanntes generisches Maskulinum vor, also eine männliche Form, die für Männer ebenso wie für Frauen gilt. So wäre noch vor weniger als zwanzig Jahren jede Frau in der Position Angela Merkels als Frau Bundeskanzler angeredet worden. Eben gegen dieses generische Maskulinum, das es zulässt, von Rechtsanwälten, Ärzten, Lehrern usw. zu sprechen, wo beide Geschlechter vertreten sind, kämpft die Frauenbewegung seit mehr als 30 Jahren. Es kann mithin keiner Sprachfeministin wirklich recht sein, dass Angela Merkel verfassungsgemäß ist, denn dies bedeutet ja: Der Bundeskanzler kann aller Sprachkritik zum Trotz auch eine Frau sein.

Sprachlich um einiges weiter als das Grundgesetz ist beispielsweise die aktuelle 23. Auflage des Rechtschreibdudens, in der die Bundeskanzlerin bereits verzeichnet ist, und immerhin auch der „„Ratgeber für Anschriften und Adressen“ des Innenministeriums. Er kennt und fordert die Anrede „Frau Bundeskanzlerin“.

Wie wenig intensiv man sich allerdings von Staats wegen bislang mit der Möglichkeit einer Kabinettschefin befasst hatte, zeigt die Tatsache, dass 1996 die Internetadresse www.bundeskanzler.de, nicht aber www.bundeskanzlerin.de für die Regierung reserviert worden war. Letztere sicherte sich 1998 ein Berliner Student. Er zeigte sich nun freundlicherweise bereit, seine Rechte an Angela Merkel, die sie nötiger brauchte, abzutreten.

Jochen A. Bär

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